Das Ich im 20. Jahrhundert am Beispiel von Edward Hoppers Werk

Hopper, Nighthawks 1942

"Nighthawks" 1942
Öl auf Leinwand, The Art Institute of Chicago

Ohne Zweifel das bekannteste Werk Hoppers. Die Literatur, die inzwischen darüber existiert, ist umfangreich. Nachrichtensprecher, Schriftsteller, Prediger, Politiker, fast jeder, der den Zeitgeist auf seinen Fahnen stehen hat, muss sich, so der Eindruck, zu Nighthawks geäußert haben. Auf ein Neues also:

Ein erster Blick: In einem Meer menschenleerer Dunkelheit steht diese Insel des Neonlichts. Ein Fluchtpunkt so scheint es zunächst, aber kein Hoffnungspunkt. Die Einsamkeit der Barbesucher wird gesteigert durch die Sprachlosigkeit des Paares, die wie rituelle Gewohnheit wirkt. Das Hauptinteresse der Frau scheint der Glut ihrer Zigarette zu gelten. Die Haltung des dritten Mannes zeigt: auch er ist mit sich selbst beschäftigt. Der Barmann, in unterwürfiger Haltung, abhängig vom Kunden, gefangen im Dreieck seines Tresens – er ist hier nur Zutat, er zählt nicht.

Ein zweiter Blick: Wo ist eigentlich die Türe zur Straße? Die im Bild sichtbare Türe ist, erkennbar am kleinen Fenster in Augenhöhe, eine Durchgangstüre für servierendes Personal, nicht für Kunden. Sind somit die Barbesucher die Gefangenen und gerade nicht der Barmann, da doch für ihn ein Ausgang existiert? Woher kommt das Licht auf der gegenüberliegenden roten Häuserwand? Physikalisch gesehen müsste es entweder von einer Straßenlaterne kommen - der kleine, helle Lichtkeil im ansonsten dunklen Schaufenster gegenüber läßt dies als möglich erscheinen - oder aber es ginge von der Höhe des Barmannes aus. (Er wäre damit ein ähnlicher geistiger Fluchtpunkt, wie bei "Pennsylvania Coal Town" und bei "Cape Cod Morning")

Ein dritter Blick: Dieser Barmann - er steht eigentlich in einem starken Gegensatz zu den anderen: er ist die einzige helle Gestalt in diesem Bild. Er ist gleichzeitig die einzige handelnde Person und, besonders aus Sicht der nordamerikanischen Mentalität, ist er damit derjenige, der frei ist. Während die anderen mit sich selbst beschäftigt sind, kann er sich allen drei gleichzeitig zuwenden. Aus seiner Haltung geht hervor, dass sein Handeln dienend ist und so kommt hier evtl. noch ein religiöser Aspekt hinzu. Also wohl doch keine "Zutat".

Ein letzter Blick: Falls überhaupt, dann käme irgend eine Art von Erlösung für die drei anderen Gestalten, von dieser Figur! Hat Hopper für dieses Thema die Bar gewählt, weil sie  d e r  typische Ort der Erlösung (durch Alkohol) ist? Der Barmann als Erlösergestalt?? Vielleicht ist er einfach nur der Nächste. Aber dann wird es für mich als Betrachter ungemütlich. Warum bleibe ich dann draußen auf der Sraße stehen? Warum gehe ich nicht hinein und tue, was hier nötig ist? Möglicherweise wirft Hopper hier unbewusst einen imaginativen Blick auf die zukünftige Mission dieser jungen, noch in den Kinderschuhen steckenden Kultur. Hopper bemerkte einmal: "Die Eigenart des Amerikanischen liegt in einem Maler. Diese Eigenart braucht er sich nicht noch anzueignen." (Es sei daran erinnert, dass der gegenwärtige exzessive Materialismus nicht die einzige Erscheinungsform dieser Kultur ist. Daneben existieren, gleich einem Keim, eine Reihe streng religiöser Gemeinschaften, wie Hutterer, Quäker, Mormonen, Amish usf.).

Dieses Werk verlangt vom Betrachter mehr, als den Kunstgenuss eines geheimnisvollen, faszinierenden Bildes. Es verlangt dem Betrachter einen Standpunkt ab, der hinterher womöglich ein ganz anderer ist, als der äußerlich im Bild erkennbare Standpunkt des Zuschauers von außen.

(Manchmal denke ich, es müßte eine Art Kirche für diese gequälten Seelen gebaut werden und dies wäre dann ein geeignetes Altarbild. Andererseits: Welche heutige Kirche ist schon dem Getöse dieser Schweigensschreie gewachsen, außer einer Bar? Und welcher heutige Priester könnte diese immer dürstenden Seelen mit "Spiritus" erfüllen, außer einem Barmann?)

Hopper schafft es hier in frappierender Weise nicht nach den dargestellten Menschen im Bild zu fragen, sondern die Frage des Malers nach dem eigenen Sein ruft dieselbe Frage im Betrachter hervor.

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