Echn-aton: "Der Große Sonnengesang"

Der Große Sonnengesang ist die erste Dichtung, welche die sinnlich wahrnehmbare Welt besingt, wie wir sie mit unserem heutigen Wachbewußtsein auch sehen können. Aton wird als das Wesen beschrieben, das durch die Kräfte der vier Elemente (Erde, Wasser, Feuer und Luft) die Natur und die Lebewesen belebt und erhält. Daher wird die Natur im wesentlichen noch nicht als toter Mechanismus gesehen, sondern als lebender Organismus, der in Wechselwirkung steht mit den göttlichen Kräften, die ihn hervorbringen.

Mit seiner sensiblen und differenzierten Wahrnehmung der Elementarkräfte erweist sich Echn-aton einerseits noch als Vertreter der 2. Sothisperiode. Jedoch mit seiner Abkehr vom traumhaften Bilderbewußtsein und seiner Hinwendung zum gedanklich - sinnlichen Wachbewußtsein formuliert er andererseits schon das Ziel der 3. und letzten Sothisperiode. 

Die folgende Zeile: "Obwohl du fern bist, sind deine Strahlen doch auf Erden." ist fast schon modern, physikalisch gedacht.

Die Inhalte dieses Sonnegesanges waren zur Zeit Echn-atons noch nicht allgemein gültiger Bewusstseinsinhalt. Vielmehr werden hier die "Werdeziele" der damaligen kulturtragenden Menschheit formuliert.


Das neue, sinnengebundene Tagesbewußtsein sieht die Nacht als einen wahrnehmungstoten Raum, den Ort der Bewußtlosigkeit, an dem die Welt schweigt und sich nicht mehr, wie früher, in realen Traum- und Bildimaginationen auspricht:

... "Dunkel herrscht, es schweigt die Welt." ...

... "So liegt die Welt im Dunkel, als wäre sie tot." ...

Aber anders, als die frühere, noch ganz nach rückwärts gewandte urindische Kultur, die das Verlöschen des damaligen (noch älteren) Bilderbewußtseins als Verlust, als Verfinsterung erlebt hat (daher ja der Name " Kali Yuga" = Finsteres Zeitalter), sieht Echn-aton jetzt in einem solchem Vorgang, das geht aus dem ganzen Duktus hervor, einen Fortschritt, eine Befreiung!

Ganz bewußt betont Echnaton den Unterschied zu früher, wenn er von der Nacht sagt:

... "Sie schlafen in ihren Kammern, Ihre Häupter sind verhüllt,

Ihre Nasen sind verstopft, und keiner sieht den andern." ...

und im Gegensatz dazu vom Tag:

... "Das Dunkel wird verbannt,

Wenn du deine Strahlen aussendest" ...

Die eigenartige Bemerkung über die verstopften Nasen wird verständlicher, wenn man die Reliefs der Amarnazeit betrachtet.
Die von Aton nach allen Seiten ausgehenden Strahlen halten dort, wo ein solcher Strahl der Nase der dargestellten Person am nächsten ist, ein Anchkreuz in der Hand. Das heißt, dass das, was Aton hier geben kann, "das beseelte Leben", hier im Sinne einer wachbewußten Verarbeitung der Weltinhalte, am Tage
gespendet wird, nachdem er am öslichen Horizont aufgegangen ist. 

Dies ist im tieferen Sinne die Botschaft Echnatons: Der Fortschritt zukünftiger Menschheitsentwicklung ist an das Wachbewusstsein des Tages gebunden. 

Und diese Gabe dringt durch die Nase in den Menschen ein. (Womöglich ist dies auch ein Hinweis darauf, daß sich mit einem veränderten Bewußtsein auch die Atmung verändert.)

Im Alten Testament heißt es dazu: "Da machte der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele." (1. Mose 2,7) 

Das Luftelement und die Seele werden hier, wie später auch in Griechenland, in einem inneren Zusammenhang gesehen: hebr: ruach, griech: pneuma, "wehender Geist, wehende Seele")
Eine Wendung, die wiederholt vorkommt, spricht davon, daß die verschiedenen Lebewesen auf ihren Füßen stehen. Für das heutige Bewußtsein eine eher triviale Bemerkung, ist dies bei Echnaton die Aufforderung, sich der Erde zu zuwenden und sich der irdischen Verhältnisse bewußt zu werden. Der ganze Sonnengesang beschreibt die Vorgänge in der Natur und des menschlichen Lebens in fast schon physikalisch - biologischer Genauigkeit. Selbstverständlich ist Aton der Urheber und die Quelle allen Daseins. Aber diese Quelle soll zukünftig in den Menschen einziehen, dadurch, daß sie ihm bewußt wird.

Mit verstopfter Nase und verhülltem Haupt ist nun der nächliche Gang der Seele zu den Sternengöttern nicht mehr bewußt möglich.

Diese Unabhängigkeit vom kosmisch-göttlichen Willen führt zu einem neuen Selbstbewußtsein, zu einem Bewußtsein der eigenen Individualtät, der Einzigartigkeit:

"Du bist in meinem Herzen,

Kein andrer ist, der dich kennt,

Außer deinem Sohne Echn-aton."

Hier spricht nicht mehr der Gott in seinem Geschöpf, das, unfrei, ihm hingegeben ist und von ihm geführt wird, wie noch bei der Gruppenstatue des Mykerinos aus der 4. Dynastie oder bei Chefren mit dem Horusfalken. Hier spricht umgekehrt ein ICH aus freiem Willen zum Gott und wird diesem auf einer neuen Stufe ähnlich. 
(Auch im Alten Testament führt ein erster Akt des menschlichen Eigenwillens zur Gottähnlichkeit: "Siehe, der Mensch ist geworden, wie unsereiner, denn er weiß nun, was Gut und Böse ist." 1.Mose 3,22)

Der Glanz des A t o n

Der "Große Sonnengesang" Echn-atons

 

Dein Aufleuchten ist schön am Rande des Himmels,

Du lebender Aton, der zuerst lebte!    

Wenn du dich erhebst am östlichen Rande des Himmels, 

So erfüllst du jedes Land mit deiner Schönheit.      

Denn du bist schön, groß und funkelnd, du bist hoch über der Erde

Deine Strahlen umarmen die Länder, ja alles, was du gemacht hast

Du bist Re, und du hast sie alle gefangengenommen;

Du fesselst sie durch deine Liebe.

Obwohl du fern bist, sind deine Strahlen doch auf Erden;

Obwohl du hoch droben bist, sind deine Fußstapfen der Tag.      

         

Nacht

Wenn du untergehst am westlichen Rande des Himmels,

So liegt die Welt im Dunkel, als wäre sie tot.

Sie schlafen in ihren Kammern,

Ihre Häupter sind verhüllt,

Ihre Nasen sind verstopft, und keiner sieht den andern.

Gestohlen wird alle ihre Habe, die unter ihren Häuptern liegt,

Ohne, daß sie es wissen.

Jeder Löwe kommt aus seiner Höhle,

Alle Schlangen stechen.

Dunkel herrscht, es schweigt die Welt;

Denn der sie schuf, ist am Himmelsrande zur Ruhe gegangen.

 

Der Tag und der Mensch

Hell ist die Erde,

Wenn du aufgehst am Himmelsrand,

Wenn du als Aton bei Tage scheinst.

Das Dunkel wird verbannt,

Wenn du deine Strahlen aussendest,

Die beiden Länder feiern täglich ein Fest,

Wachend und auf ihren Füßen stehend,

Denn du hast sie aufgerichtet.

Sie waschen sich und nehmen ihre Kleider;

Ihre Arme erheben sich in Anbetung, wenn du erscheinst.

Alle Menschen tun ihre Arbeit.

 

Der Tag und die Tiere und Pflanzen

Alles Vieh ist zufrieden mit seiner Weide,

Alle Bäume und Pflanzen blühen,

Die Vögel flattern über ihren Sümpfen,

Und ihre Flügel erheben sich in Anbetung zu dir.

Alle Schafe hüpfen auf ihren Füßen,

Alle Vögel, alles, was flattert -

Sie leben, wenn du über ihnen aufgegangen bist.

 

Der Tag und das Wasser

Die Schiffe fahren stromauf und stromab,

Jede Straße ist offen, weil du leuchtest.

Die Fische im Strom springen vor dir,

Und deine Strahlen sind mitten im großen Meer.

 

Die Erschaffung des Menschen

Du bist es, der den Knaben in den Frauen schafft,

Der den Samen in den Männern gemacht hat;

Der dem Sohn Leben gibt im Leibe seiner Mutter,

Der ihn beruhigt, damit er nicht weine,

Du Amme im Mutterleibe.

Der Atem gibt, um alles zu beleben, was er gemacht hat!

Kommt er heraus aus dem Leibe,

. . . am Tage seiner Geburt,

So öffnest du seinen Mund zum Reden,

Du schaffst ihm, wessen er bedarf.

 

Erschaffung der Tiere

Das Küchlein piept schon in der Schale,

Du gibst ihm Atem darin, um es zu beleben.

Wenn du es vollkommen gemacht hast,

So daß es die Schale durchbrechen kann,

So kommt es heraus aus dem Ei,

Um zu piepen, soviel es kann;

Es läuft herum auf seinen Füßen,

Wenn es aus dem Ei herauskommt.

 

Die ganze Schöpfung

Wie mannigfaltig sind alle deine Werke,

Sie sind vor uns verborgen,

O du einziger Gott, dessen Macht kein anderer hat,

Du schufst die Erde nach deinem Begehren,

Während du allein warst:

Menschen, alles Vieh, groß und klein,

Alles, was auf der Erde ist,

Was einhergeht auf seinen Füßen;

Alles was hoch droben ist,

Was mit seinen Flügeln fliegt.

Die Länder Syrien und Nubien

Und das Land Ägypten;

Du setzest jedermann an seinen Platz

Und gibst ihnen, was sie bedürfen.

Ein jeder hat seinen Besitz,

Und ihre Tage sind gezählt.

Ihre Zungen reden mancherlei Sprache,

Auch ihre Gestalt und Farbe sind verschieden,

Ja, du unterschiedest die Menschen.

 

Bewässerung der Erde 

Du schufst den Nil in der Unterwelt,

Du führtest ihn herauf nach deinem Belieben,

Um die Menschen am Leben zu erhalten,    

Wie du sie dir gemacht hast,    

Du, ihrer aller Herr!

Du Tagessonne, die Frucht jedes fernen Landes,     

Du schaffst (auch) ihr Leben.

Du hast einen Nil an den Himmel gesetzt,     

Damit er für sie herabfalle

Und Wellen schlage auf den Bergen wie das Meer     

Und ihre Felder bewässere in ihren Städten.

Wie herrlich sind deine Pläne, du Herr der Ewigkeit!

Der Nil am Himmel ist für die Fremdländer    

Und für das Wild der Wüste, das auf seinen Füßen geht;

Der (wirkliche) Nil aber quillt der Unterwelt hervor für Ägypten.

So ernähren deine Strahlen jeden Garten,

Wenn du dich erhebst, so leben sie und wachsen für dich.

 

Die Jahreszeiten 

Du machtest die Jahreszeiten, um alle deine Werke zu schaffen.

Den Winter, um sie zu kühlen,

Und ebenso auch die Hitze (des Sommers).

Du hast den fernen Himmel gemacht, um an ihm aufzugehen,

Um alles zu schauen, was du gemacht hast,

Während du allein warst,

Erstrahlend in deiner Gestalt als lebender Aton,

Aufdämmernd, strahlend, dich entfernend und wiederkehrend.

 

Schönheit durch das Licht 

Du hast Millionen von Gestalten gemacht aus dir allein.

In Städten, Dörfern und Ansiedlungen,

Auf der Landstraße oder am Fluß

Alle Augen sehen dich vor sich,

Wenn du die Tagessonne über der Erde bist.

 

Aton und der König 

Du bist in meinem Herzen,

Kein andrer ist, der dich kennt,

Außer deinem Sohne Echnaton.

Du hast ihn eingeweiht in deine Pläne

Und in deine Kraft.

Die Welt ist in deiner Hand,

Wie du sie gemacht hast.

Wenn du aufgegangen bist, so leben sie,

Gehst du unter, so sterben sie,

Denn du selbst bist die Lebenszeit

Und man lebt durch dich,

Alle Augen schauen auf deine Schönheit,

Bis du untergehst.

Alle Arbeit wird beiseite gelegt,

Wenn du im Westen untergehst.

Wenn du dich erhebst, so werden sie gemacht,

Zu wachsen für den König.

Seit du die Erde gründetest,

Hast du sie aufgerichtet für deinen Sohn,

Der aus dir selbst hervorging,

Den König, der von der Wahrheit lebt,

Den Herrn der beiden Länder Nefer-cheperu-Re, Ua-en-Re,

Den Sohn des Re, der von der Wahrheit lebt,

Den Herrn der Kronen Echnaton, dessen Leben lang ist;

(Und für) die große königliche Gemahlin, die von ihm geliebte,

Die Herrin der beiden Länder, Nefer-nefru-Aton,

Die lebt und blüht für immer und ewig.