echn-aton.de
Beiträge zur Bewußtseinsgeschichte der ägyptischen Kultur
Entstehung der Schrift – Voraussetzungen

Zweifellos hatten die Menschen in der Zeit vor der Schrift eine Sprache und ebenso zweifellos hatten sie ihre großen und kleinen Erlebnisse, die seelisch verarbeitet wurden. Tatsache ist jedoch, daß sie sich nicht veranlasst sahen, ihre äußeren Erlebnisse und inneren Anliegen schriftlich zu fixieren.

Zur Entstehung der Schrift existieren zwei unterschiedliche Vorstellungen, bzw. Aussagen.

  • In den Mythen der Völker wird die Schrift im Allgemeinen von den Göttern hergeleitet.

  • Die heutige Forschung ist hingegen überwiegend der Meinung, daß die Schrift eine Erfindung der jeweiligen Kultur sei.

In beiden Fällen liegt die Betonung auf der Frage, wie die Schrift entstanden ist.

Hier sollen hingegen die Voraussetzungen betrachtet werden, die nötig sind, damit Schrift entstehen kann.

  1. Ein erster Punkt ist zunächst deutlich: das schriftliche Wort hat zur Voraussetzung den gedanklichen Begriff. Auch heute noch können wir nicht schreiben, wenn uns der Begriff für das zu beschreibende Ereignis fehlt. Auch vor der Schrift waren natürlich Begriffe von den Erscheinungen der Welt vorhanden. Diese waren aber noch nicht gedanklicher Art. Die Begriffe der Vorzeit hatten die Form von Bildern. Erst nachdem die Fähigkeit des gedanklichen Begriffes in die Menschheit trat, konnten diese Bilder in Schriftform geprägt werden. Dieser neu gewonnene Gedankenbegriff war natürlich noch nicht so abstrakt, wie heute. Es waren nach wie vor Bilder, die jetzt beschrieben wurden.[1] So verwundert es auch nicht, daß mit den Hieroglyphen zuerst eine Bilderschrift entstand.

  2. Ein zweiter Punkt folgt daraus. Um einen Begriff bilden zu können, ist eine gewisse Distanz zum Phänomen, das beschrieben werden soll, nötig. Auch dies ist uns vertraut. Wir können kein objektives Urteil bilden, wenn wir nicht genügend Abstand zur entsprechenden Sache gewonnen haben.

  3. Somit ergibt sich als dritter Punkt: wenn zwischen mir und den Erscheinungen der Welt eine Distanz besteht, dann erfasse ich diese Erscheinungen nicht mehr direkt und unverfälscht. Ich stehe nicht mehr in der Sache, sondern außerhalb, der Sache gegenüber. Die Subjekt - Objekt Beziehung entsteht. Im Bewußtsein lebt dann lediglich eine subjektive Interpretation des Phänomens.[2]

  4. Eine Interpretation benötigt einen persönlichen Standpunkt.

  5. Ein persönlicher Standpunkt ist dann möglich, wenn die eigene Existenz erlebt wird als Individualexistenz, die sich unterscheidet von der Existenz des Anderen. Zum Sippen- und evtl. auch Volksbewußtsein (Blutsbewußtsein, Bewußtsein von „unten“) tritt hinzu das Selbstbewußtsein (Bewußtsein von „oben“).

  6. Ein solches Selbstbewußtsein muß sich in den fließenden Erscheinungen der Welt ständig über den eigenen räumlich-zeitlichen, vor allem aber auch über den sozialen und geistig-religiösen Standort klären. Es bilden sich somit die Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Mein und Dein, von unten und oben, auch im sozialen und geistig-religiösen Bereich. Es entsteht Grammatik für den Verkehr mit den Menschen – es entsteht Religion für den Verkehr mit den Göttern. Dies soll nicht so verstanden werden, daß etwa der Bezug zur geistigen Welt, zu den Göttern, erst jetzt entstanden wäre. Dieser Bezug war vorher sogar noch stärker vorhanden. Denn die Distanz zu den wesenhaften Kräften, die etwa den Lebensprozessenen zu Grunde liegen, war ja noch nicht eingetreten. Man lebte noch in den Dingen. Das Leben selbst war Religion [3]. Später hatte man Religion. (Daher konnte auch nur damals gelingen, was heute mit züchterischen Methoden nicht mehr gelingt: der Eingriff in die Natur- und Lebenskräfte, so daß aus Wildtieren Haustiere und aus Wildgräsern Getreide werden konnte.)

  7. Und endlich, siebtens, geht mit dem Selbstbewußtsein und einem persönlichen Standpunkt auch ein persönlicher Wille einher. Damit entsteht die Möglichkeit von Gut und Böse im bewußten Denken und Handeln (z. B. wird erst ab jetzt die bewußte Lüge zwecks Erlangung eines persönlichen Vorteils möglich.)

Aus der vordergründigen Frage wie die Schrift entstanden ist, entwickelt sich somit die tiefer gehende Frage, warum die Schrift entstanden ist. Wie kam es, daß diese Voraussetzungen auf einmal erfüllt waren? Wie hat sich das Verhältnis des Menschen zur Welt, zur Art, wie er sich selbst in der Welt wahrnimmt, verändert, sodaß ein Bedürfnis, vielleicht sogar eine Notwendigkeit entstand, äußere Ereignisse und innere Anliegen schriftlich zu fixieren?

Hier sollen versuchsweise einige Gedanken dazu angeführt werden.

Eine der hervorragenden Neuerungen in Echnatons Sonnengesang ist die wiederholte starke Betonung des unterschiedlichen Bewußtseins zwischen Tag und Nacht. Dieser Unterschied ist im Sinne eines neuen, anzustrebenden Kulturzieles zu verstehen, welches zu damaliger Zeit von der Allgemeinheit noch nicht voll erreicht war [4]. Denn das alte, archaische Bewußtsein war noch weitgehend lückenlos, ohne eine Unterbrechung durch die Nacht, mit dem Zeitstrom verbunden. Der vor- und frühgeschichtliche Mensch lebte in einer Art Existenzkontinuum, in dem sowohl die Alltagswelt [5], wie auch die nächtliche Taumbilderwelt sich zu einer immer neuen Gegenwart verband und den Inhalt des Empfindungslebens bestimmte.

Im dem Maße, in dem sich das Bewusstsein in einer nächsten Entwicklungsstufe mehr der physisch-sinnlichen Welt des Tages zuwandte, verblassten die nächtlichen Bildwahrnehmungen von denjenigen Kräften und Wirksamkeiten, die eben dieser physischen Welt zu Grunde liegen. Die Nacht wurde zum Ort der Bewußtlosigkeit, so, wie es heute noch weitgehend der Normalzustand ist.

Mit dieser Unterbrechung des Bewußtseins durch die Nacht, trat nun die Möglichkeit des Vergessens auf.

Ein durch die Schrift fixiertes Ereignis wird aus der Sphäre der fließenden Zeit herausgenommen, gleichsam eingefroren und in den Zustand einer potenziell ewigen Gegenwart versetzt.  Ein dynamischer Vorgang wird dadurch, dass er schriftlich fixiert wird, zum statischen Zustand[6]

Schreiben ist somit der Versuch gegenüber dem gesetzmäßig und unabänderlich dahin fließenden Strom der Zeit eine gewisse Freiheit zu gewinnen. 

Der Wunsch, dies zu tun, entsteht auch durch den veränderten  Stellenwert, den der Tod einnimmt, der jetzt mehr und mehr als das Ende der personalen Zeit innerhalb einer zunehmend irdisch werdenden Existenz erlebt wird. 

Es verwundert daher nicht, daß zur gleichen Zeit auch erstmals der Versuch gemacht wird, diesen persönlichen Tod zu "überwinden". Denn mit der Schrift beginnt auch die Mumifizierung. 

Dieser Bewußtseinswandel trat ziemlich abrupt ein (um 3100) und muß in Ägypten als besonders starker Einschnitt erlebt worden sein. Denn beides, Schrift und Mumifizierung - wie auch überhaupt der gesamte Totenkult -  wurden, wie die Geschichte zeigt, in der Folgezeit fast exzesshaft betrieben.

Die eigentliche Frage, durch welcherlei Einwirkung ein solcher menschheitlicher Evolutionsschritt eingeleitet und herbeigeführt wird, ist Gegenstand der Religionen und Weltanschauungen. Eine Antwort darauf muß hier notwendig das Ergebnis der persönlichen Erkenntnisbemühung und Überzeugung des Einzelnen sein.

Was hier jedoch objektiv festgehalten werden kann, ist, dass ein solcher Evolutionsschritt stattgefunden hat, da sonst weder Schrift noch Mumifizierung hätte enstehen können.


[1]So wird z.B. alle Wissenschaft über die Entstehung der Welt, über die Gesetze des Lebens, über die Wechselwirkungen zwischen Kosmos und Erde und dergleichen mehr, nicht als Formel beschrieben, sondern personifiziert, als dynamisches Geschehen zwischen geistg - göttlichen Willenszentren und Menschen. Die Übersetzung dieser Bildersprache in unsere heutige Gedankensprache stellt das größte Hindernis dar für das Verständnis alter Kulturen.

[2] Der Widerspruch zu 2. löst sich durch folgende Überlegung: Ein Urteil ist für uns dann objektiv und richtig, wenn die Logik des zugrunde liegenden Gedankenganges auch für andere nachvollziehbar ist (z.B. bei einem wissenschaftlichen Experiment). Die formale Logik sagt aber noch nichts aus über die Wahrheit der Aussage. Diese kann sich später durchaus als unwahr herausstellen. Der Inhalt der Aussage bleibt also zunächst subjektiv. So war das geozentrische Weltbild des Ptolemäus jahrhunderte lang „wahr“, bis es vom heliozentrischen Weltbild Kepplers abgelöst wurde. ---

Über die Frage objektiver und subjektiver Wahrheit streiten sich die Philosophen seit der Antike. Kant war z.B. der Meinung, daß man darüber nichts wissen könne und daß es eine Sache des Glaubens sei. (Sonderbar, daß sich so viele Wissenschaftler auf Kant berufen). Bei R. Steiner ist die Wahrheit sowohl auf den Menschen, wie auf die Welt bezogen. Sie sei das Ergebnis der Interaktion zwischen Mensch und Welt und daher nicht absolut, da das Verhältnis zwischen den beiden sich mit der Entwicklung ändert und immer wieder neu gefunden werden muß.

[3]Hier wäre eigentlich ein anderes Wort nötig. Denn re-ligio bedeutet „Wiederanbindung, Wiederverbindung“. Der Begriff weist darauf hin, dass einmal eine Anbindung vorhanden war, dann verloren gegangen ist und nun durch religio eine Wiederanbindung versucht werden muß.

[4] Während die Hieroglyphen zu Beginn der zweiten Sothisperiode als Sakralschrift für eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen entstehen, scheint für Echnaton bereits am Ende dieser Periode die Zeit dafür reif zu sein, im Sonnengesang diesen Bewusstseinswandel als Kulturziel für die Allgemeinheit zu formulieren.

[5] Allerdings war die Wahrnehmung der Alltagswelt bei weitem nicht so klar konturiert, wie sie etwa in unserer heutigen Wahrnehmung erscheint. Es konnte daher auch noch keine echte Auseinandersetzung mit der physischen Welt stattfinden.

[6] Sie ist die vielleicht erste (geistige) Konservierungstechnik der Menschheit, wie auch die Mumifizierung ja eine physische Konservierung darstellt. Dieser Teil der ägyptischen Kultur spiegelt sich heute in modernen Konserven, wie Tiefkühlkost, Video/Audio CDs und Datenbanken. Auch die aussterbende Spezies der Wissenskonserven wie Universallexika und Enzyklopädien gehört hier her, deren letzter Vertreter (nach H. M. Enzensberger) der Quelle Katalog ist.

Home - echnaton.de